WTO eCommerce: digitale Kolonialisierung stoppen

    Quelle "https://hintergrundbilder.wallpaperstock.net/pixel-world-wallpapers_w22479.html"

    In 10 Jahren OKF hat sich der digitale Datenaustausch explosionsartig entwickelt. Die Ausbreitung und damit auch Macht international agierender Unternehmen ist weit fortgeschritten. Die Welthandelsorganisation (WTO) entwickelt im Rahmen einer „Joint Statement Initiative“ (JSI) seit dem Frühjahr 2019 gemeinsame Regeln (WTO Electronic Commerce Negotiations) für den Handel in der Digitalökonomie. Wir fordern mit Aktivist:innen wie der Anwältin Renata Ávila Pinto den digitalen Kolonialismus zu stoppen und globale Regeln am Gemeinwohl auszurichten.

    In den letzten fast fünfzig Jahren hat sich die Architektur des Internets von einem weitgehend demokratischen Netzwerk autonomer Knoten zu einer verteilten feudalen Struktur verändert, die Daten in wenigen Händen zentralisiert. Wohlhabende Länder dominieren diese Struktur. Das Ziel der großen Technologieunternehmen ist offensichtlich: Es gibt einen Wettlauf um den Anschluss der nächsten Milliarde Menschen an eine Version des Internets, die nicht mehr auf Offenheit oder das öffentliche Interesse ausgerichtet ist. Sie wollen die kritische Infrastruktur weltweit kontrollieren, um die fehlenden Datensätze der globalen Bevölkerung, insbesondere benachteiligter Menschen des Globalen Südens, in die Hände zu bekommen. Diese und weitere Erkenntnisse formuliert Renata Ávila Pinto in ihrem Papier “Against Digital Colonialism”. Darin untersucht sie, wie dominante Länder innerhalb eines globalen Systems von der Digitalisierung einkommensschwacher Länder profitieren, was sie als eine neue Form des Kolonialismus bezeichnet.

    Nach Avila sei der digitale Kolonialismus ein Prozess der Entfaltung imperialer Macht über eine große Anzahl von Menschen, die die Form von Regeln, Designs, Sprachen, Kulturen und Glaubenssystemen annimmt, die den Interessen der dominanten Mächte dienen. In der Vergangenheit sei Macht durch die Kontrolle kritischer Güter ausgedehnt worden, von Handelswegen bis hin zu Edelmetallen. Heute seien es nicht Staaten, sondern Technologieimperien, die die Welt durch die Kontrolle kritischer digitaler Infrastrukturen, Daten und den Besitz von Rechenleistung beherrschen.

    Die globale Regulierung des e-Commerce: Lobbyismus vor den Toren der WTO

    Die wachsende Bedeutung des Internets für den internationalen Handel bedeutet, dass Versuche zur Handelsliberalisierung digitaler Systeme unausweichlich sind. Sie sind die Vehikel globaler Technologieunternehmen, da sie eine effizientere Lobby darstellen als die Beeinflussung nationaler oder gar regionaler Prozesse - so Ávila. Ein globales Handelsabkommen, auch wenn es länger dauere, bis es verabschiedet ist, harmonisiere hingegen die Regeln überall. Handelsabkommen seien damit stabiler als nationale Gesetzgebungen und können nicht geändert werden, wenn eine neue Regierung mit einer anderen Agenda gewählt wird. Jeder Verstoß gegen sie sei kostspielig und nationale Regierungen könnten keine Gesetze gegen sie erlassen, ohne einen Rechtsstreit zu riskieren. Die Änderung eines globalen Abkommens könne also Jahrzehnte dauern und sei ein kostspieliger Prozess.

    Bevorstehende WTO-Verhandlungen erfordern schnelles Handeln

    Derzeit verdrängen Gespräche über den digitalen Handel eine gemeinwohlorientierte Entwicklungsagenda, die z.B. auch Armut dramatisch reduzieren könnte: Denn der aktuelle Effekt dieses Abkommens bestehe darin, den Menschen neue Standards und Praktiken aufzuzwingen, die nicht wirklich eine Wahl oder keinen Zugriff auf das Wissen haben, um ihre langfristigen Folgen zu verstehen. Dies könne für Arbeitnehmer verheerend sein, da es zunehmend prekäre Arbeitsbedingungen schaffe und die Durchsetzung lokaler Arbeitsgesetze erschwere. Es könne sogar eine verstärkte technologievermittelte globale Kontrolle über die Leistung von Arbeitnehmern ermöglichen.

    Getarnt als Entwicklungspfade, die eine digitale Wohlstandszukunft versprechen, wird eine Zukunft der digitalen Souveränität gefährdet. Das Gegenteil ist nötig. Bis zur diesjährigen Ministerkonferenz der WTO im November finden noch Anpassungen am derzeitigen Entwurf statt. Dazu trifft sich die Joint Statement Initiative (JSI), zuletzt heute, am 21. Juni 2021. Wir brauchen eine starke digitale Zivilgesellschaft, um gemeinsam wachsam zu sein und Druck auf die politischen Entscheidungstragenden auszuüben.

    Die OKF setzt sich als Teil dieser digitalen Zivilgesellschaft seit 10 Jahren dezidiert für Infrastrukturen und Technologien ein, die Beteiligung, demokratisches Miteinander und die Souveränität des Individuums sowie der Gesellschaft stärken. Die aktuell laufenden Verhandlungen zur Harmonisierung der Regeln im globalen Datenaustausch sind wichtige und gleichzeitig gefährliche Hebel, um weltweit Einfluss zu nehmen. Darum fordern wir:

    Public Interest Tech: Öffentliche Auftragsvergabe zur Änderung der Spielregeln und Dezentralisierung der technologiebasierten Macht

    Die Rolle von öffentlichen Investitionen und Beschaffungen sollte grundlegend gegen den digitalen Kolonialismus eingesetzt werden. Regierungen sollten die Kontrolle über lebenswichtige Infrastrukturen zurückgewinnen und bei der Bewertung neuer Investitionen in Technologie das öffentliche Interesse an die erste Stelle setzen. Sie sollten in ihre eigene Infrastruktur zur Datenübertragung investieren sowie Prioritäten und Anreize für den Aufbau regionaler Datenzentren, Dienstleistungen und Geräte schaffen, um Bürger:innen eine grundlegende partizipative Infrastruktur zu bieten. Auch braucht es umfassende Gesetze zur Öffnung insbesondere kritischer Technologien, die der Nachhaltigkeit und Anpassungsfähigkeit der eingesetzten Systeme Priorität einräumen. Der Prototype Fund ist hier ein wichtiger Baustein, denn er finanziert Technologieentwicklung im Sinne des Gemeinwohls, indem er Public Interest Technologien und auf diese Weise das Innovationspotenzial der Gesellschaft fördert. Ganz ähnlich könnte ein Infrastruktur Fund - beispielsweise auf europäischer Ebene - wirken und seine Methoden und Ergebnisse auch außereuropäischen Ländern zur Verfügung stellen.

    Informationsfreiheit und offene Bildung für digitale Emanzipation

    Die Förderung der Entwicklung von Ökosystemen digitaler Fertigkeiten, die über grundlegende Programmierkenntnisse hinausgehen, ist ein zentrales Element. Bildung und der Zugang zu Wissen ermöglichen eine aktive Beteiligung an der Gestaltung der digitalen Gesellschaft. Ländern, die in der globalen Politik benachteiligt werden, sollte nicht die Möglichkeit genommen werden, sich aktiv an dieser digitalen Gestaltung zu beteiligen. Dazu müssen lokal Beteiligungsmöglichkeiten geschaffen werden, die auch mit einer Digitalisierung von Verwaltung einhergehen. Denn diese ermöglichen die öffentliche Bereitstellung von Informationen - sowohl in Form von offenen Daten als auch Regierungsinformationen - die notwendig sind für die Entwicklung dezentraler und gemeinwohlorientierter Lösungen. Die junge Generation sollte im Umgang mit solchen Informationen und offenen Technologien geschult werden. Hier braucht es globalen Wissenstransfer. Mit Projekten wie FragDenStaat, Jugend hackt oder der Datenschule gehen wir hier erste Schritte. Solche Vorhaben müssten flächendeckend gefördert und international verankert werden.

    Mit diesem Artikel möchten wir einen Beitrag zur Diskussion um die WTO Electronic Commerce Negotiations leisten und aufmerksam machen. Dabei möchten wir hervorheben, dass die formulierten Handlungsfelder keinen Anspruch auf Vollständigkeit haben. Vielmehr sollen sie den Fokus auf bisher zu wenig adressierte Themen lenken, mit denen wir ins Gespräch gehen möchten.