Gastbeitrag: Gibt es ein "Open Movement"?

    Stefan Baack, 28 Jahre alt, schreibt derzeit eine Masterarbeit über die Open Data Bewegung an der Universität Bremen im Studiengang MA Medienkultur und geht in einem Gastbeitrag der Frage nach: Gibt es ein “Open Movement”?

    Provokant bezeichnete Tom Slee die Open Data Bewegung vergangenen Mai als Witz. Er löste damit eine breite Diskussion darüber aus, ob es überhaupt so etwas wie eine Open Data Bewegungen im Sinne einer sozialen Bewegung gibt. In der Soziologie und Kommunikationswissenschaft sind mir keine Studien bekannt, die sich direkt mit dieser Frage auseinandersetzen. Allerdings wird darüber diskutiert, ob die vielen unterschiedlichen Offenheitsinitiativen (Herb 2012), zu denen bspw. die Open Knowledge Foundation ohne Frage gezählt werden kann, eine zusammenhängende, größere Bewegung bilden (könnten), quasi als eine große ‘Open Movement’. Im Folgenden möchte ich hierzu zunächst knapp umreißen, was soziale Bewegungen sind, um anschließend die Diskussion um die ‘Access to Knowledge’ (A2K) Bewegung vorzustellen und auf die häufig herangezogene Parallele zur Umweltbewegung einzugehen.

    Was sind soziale Bewegungen?

    Nach gängiger Definition sind soziale Bewegungen Netzwerke von Gruppen oder Organisationen, die über eine gewisse Dauer hinweg versuchen, sozialen Wandel durch Protest herbeizuführen, zu verhindern oder rückgängig zu machen (Rucht 1994: 22f.). Dieser Protest ist im Sinne von Ulrich Beck (1993: 162f.) ‘subpolitisch’, d.h. die Akteure stehen außerhalb des politischen oder korporatistischen Systems. Allgemein zielen soziale Bewegungen darauf ab, Aufmerksamkeit für neue oder andauernde Konflikte und Probleme zu schaffen, Lösungen anzubieten und dabei die dominanten gesellschaftlichen Ansichten und Praktiken infrage zu stellen. Wie Melucci zuspitzt: „What they possess is not the force of the apparatus but the power of the word“ (1996: 1). Ein zentrales Merkmal sozialer Bewegungen ist eine geteilte, kollektive Identität (Agel 2011). Das heißt, die Beteiligten müssen zumindest eine vorgestellte Gemeinschaft bilden, sich also subjektiv zueinander zugehörig fühlen (Hepp 2011: 95-120). Soziale Bewegungen sind im Grunde fortlaufende Projekte, die ständig unter den beteiligten Aktivisten neu verhandelt werden müssen: Wer sind wir? Wofür stehen wir? Kann ich mich damit identifizieren? In der Soziologie spricht man von alltäglicher Identitätspolitik (Woodward 1997: 24).

    Diese knappe Beschreibung sozialer Bewegungen ist sicherlich nicht umfassend, sollte für die folgende Diskussion aber ausreichen. Gibt es eine ‘Open Movement’, wenn diese Definition als Maßstab genommen wird?

    Die Access to Knowledge Bewegung

    Im Grunde wird eine Art Open Movement schon länger als A2K-Bewegung diskutiert (Kapczynski/Krikorian 2010). Darin werden Offenheitsinitiativen als eine Reaktion und Antwort auf zwei miteinander zusammenhängende Entwicklungen betrachtet: Mit der Verbreitung moderner Informations- und Kommunikationstechnologien ist der Zugang zu und Austausch von Wissen zwar in bisher ungekanntem Maße möglich geworden, gleichzeitig ging die Verbreitung der neuen Technologien aber auch mit einer zunehmenden Ausweitung des geistigen Eigentumsrechts einher. Geistiges Eigentumsrecht zielt prinzipiell darauf ab, offenes Wissen zu bändigen, indem die Zugangsmöglichkeiten kontrolliert und begrenzt werden. A2K setzt sich im Gegensatz dazu für den offenen und freien Zugang zu Wissen ein - und das aus den unterschiedlichsten Gründen. Kapczynski und Krikorian zählen zur A2K-Bewegungen so vielfältige Gruppierungen wie

    software programmers who took to the streets to defeat software patents in Europe, AIDS activists who forced multinational pharmaceutical companies to permit copies of their medicines to be sold in South Africa, and college students who have created a new ‘free culture’ movement (Kapczynski/Krikorian 2010: 9).

    Wie können so unterschiedliche und unverbundene Gruppierungen Teil ein und derselben Bewegung sein und wie sieht diese Bewegung aus?

    Krikorian (2010: 70) vergleicht den Aufbau der A2K-Bewegung mit einem Venn-Diagramm mit einer Vielzahl sich überlappender Teilmengen. Die Entstehung einer A2K-Instanz lässt sich am besten nachvollziehen, wenn man die Entwicklung der individuellen Interessen ihrer Teilnehmer betrachtet. Als Beispiel beschreibt Krikorian einen Aktivisten, der sich ursprünglich gegen die Diskriminierung HIV-Infizierter eingesetzt hat. Dieses Engagement führte zu einer Kampagne für den freien Zugriff auf Medikamente in Entwicklungsländern, was seine Aufmerksamkeit auf die negativen Folgen des geistigen Eigentumsrechts in der Medizin lenkte: “The activist would soon find that, perhaps even almost unwittingly, he or she had joined the A2K mobilization” (Krikorian 2010: 70). Das Beispiel zeigt, dass das eigentliche Interesse der Aktivisten häufig nicht bei A2K an sich liegt, sie den begrenzten Zugang zu Wissen jedoch als Kern des Problems ansehen, mit dem sie sich beschäftigen (Krikorian 2010: 69). Die A2K-Bewegung ist so betrachtet eine Art ‘Metabewegung’, also eine Bewegung von Bewegungen, deren Teile zwar einen jeweils anderen Fokus haben, sich jedoch in ihrer Kritik an den negativen Folgen eines begrenzten Zugangs zu Wissen treffen. Dabei unterscheiden sich Offenheitsinitiativen nicht nur in ihrem Schwerpunkt, sondern auch in der Art und dem Ausmaß von Offenheit, die sie anstreben (Herb 2012b: 9). Geht es nur um kostenlosen Zugriff oder auch weitergehend um restriktionsfreie Nutzung, die auch die Weitergabe und Bearbeitung von Wissen erlaubt? Geht es um die Offenheit von Ergebnissen bzw. Artefakten, um die Offenheit von Prozessen, oder um beides?1 Das Nebeneinander von autonomen Offenheitsinitiativen mit unterschiedlichen Schwerpunkten führt dazu, dass sich die A2K-Bewegung in ihrer Gesamtheit durch eine flache Hierarchie auszeichnet, einzelne Gruppierungen können anderen keine Vorgaben machen (Krikorian 2010: 71). Zusammengehalten werden sie durch den kleinsten gemeinsamen Nenner, dem Wunsch nach einem offeneren Zugang zu Wissen. Jede Offenheitsinitiative bringt so ihre eigenen Schwerpunkte, Taktiken und Netzwerke in die Gesamtheit der A2K-Bewegung ein.

    Kapczynski und Krikorian sehen in der A2K-Bewegung dabei mehr als nur eine Opposition gegen geistiges Eigentumsrecht. Mit positiven Konzepten wie der Public Domain, den Commons, Openness und Access versuchen A2K-Anhänger die Argumente von Befürwortern einer Aufrechterhaltung oder Ausweitung des geistigen Eigentumsrechts zu entkräften (Kapczynski 2010). Während Openness und Access als unmittelbare Forderungen betrachtet werden können, handelt es sich bei der Public Domain und den Commons um die bewusste Konstruktion von Gegenmodellen zu den Ansichten und Vorstellungen, die die Grundlage der bestehenden Rechtslage bilden. Krikorian (2010: 72) sieht in diesen Konzepten erste Versuche der A2K-Bewegung, eine gemeinsame Agenda zu schaffen und das häufig noch unverbundene Nebeneinander von Offenheitsinitiativen zu durchbrechen.

    Solange aber noch keine solche Agenda existiert und man nach wie vor von einem unverbundenen Nebeneinander sprechen muss, ist die Aussage, es handle sich bei A2K um eine Bewegung, nicht unumstritten. Alltägliche Identitätspolitik, d.h. eine kollektive Identität und ein Zugehörigkeitsgefühl, ist eine entscheidende Grundlage sozialer Bewegungen. Ein Aktivist, der wie oben zitiert ‘unwittingly’ Teil einer A2K-Instanz geworden ist, passt zumindest formal nicht zu sozialen Bewegungen, wie sie in den Sozialwissenschaften definiert werden. Mit anderen Worten: Ob man den Status quo von A2K als soziale Bewegung bezeichnet oder nicht, hängt letztlich davon ab, wie streng man sich auf formale Definitionskriterien beruft. Versuche, eine gemeinsame Agenda über Konzepte wie der Public Domain oder den Commons zu formulieren, deuten jedoch darauf hin, dass eine Open Movement zumindest im Entstehen ist. Für viele Autoren ist die Umweltbewegung dafür ein Vorbild.

    Vorbild Umweltbewegung?

    ‘Umwelt’ entwickelte sich mit dem Aufkommen der Umweltbewegung zu einem Konzept, das unterschiedliche Bewegungen vereinte und Zusammenhänge veranschaulichte. Ob lokale Proteste gegen die Zerstörung der unmittelbaren Umwelt oder die ’natural food movement’, die gegen die gesundheitsschädlichen Folgen einer zunehmenden Industrialisierung protestierte - sie alle einte die Idee einer Umwelt als schützenswertes Gemeingut (Clement/Hurrel 2008: 341-344). Viele Autoren schlagen vor, sich an einer solchen Umweltmetapher zu orientieren, um die autonomen Offenheitsinitiativen auf ähnliche Weise zu vereinen - quasi als eine Art ‘Werkzeug’ zur Bildung einer kollektiven Identität. Allerdings scheint keine Einigkeit darüber zu bestehen, worauf genau diese Metapher übertragen werden soll.
    Einerseits wird in der Diskussion über die Public Domain die Umweltbewegung als Vorbild für den Aufbau eines ‘cultural environmentalism’ herangezogen (COMMUNIA 2011: 9). So schreibt James Boyle:

    The environmentalists helped us to see the world differently, to see that there was such a thing as ’the environment’ rather than just my pond, your forest, his canal. We need to do the same thing in the information environment. We have to ‘invent’ the public domain before we can save it (Boyle 2008: xv).

    Die Public Domain definiert er als “material that is not covered by intellectual property rights […] the reserved spaces of freedom inside intellectual property” (Boyle 2008: 38). Sie wird damit als ein schützenswerter, rechtlicher Bereich konstruiert, der durch die zunehmende Ausweitung des geistigen Eigentumsrechts bedroht ist und ähnlich wie die Umwelt als Gemeingut geschützt werden muss.

    Andere Autoren übertragen die Umweltmetapher hingegen auf die technische Infrastrukturen, die die Grundlage einer ‘information/communication environment’ bilden (Clement/Hurrel 2008). Dabei handelt es sich um “those aspects of the general environment constituted out of the information artifacts and practices that we interact with” (Clement/Hurrel 2008: 344). Nach Meinung von Clement und Hurrel könnten einige noch relativ unverbundene Gruppierungen nach dem Vorbild der Umweltbewegung eine gemeinsame ‘Information/Communications Rights’ Bewegung bilden. Sie beschäftigen sich dabei nicht direkt mit Offenheitsinitiativen, sondern allgemeiner mit Bewegungen, die bestimmte Rechte in Bezug auf die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien fordern - universeller Zugang zu und demokratische Kontrolle von Kommunikationsinfrastrukturen, Freiheitsrechte in Bezug auf Software (Free/Open Source Bewegung) oder die Wahrung des informationellen Selbstbestimmungsrechts. Obwohl sich diese Forderungen ergänzen können, findet kaum Austausch zwischen den jeweiligen Bewegungen statt. Die Idee einer schützenswerten ‘Kommunikationsumgebung’ auf Basis der technischen Infrastrukturen könnte ähnlich wie bei der Umweltbewegung auch hier helfen, bislang eher unverbundene Bewegungen zu vereinen und Zusammenhänge greifbarer zu machen.

    Diese beiden Umweltmetaphern - Umwelt als ‘freie Kultur’ und Umwelt als ‘Kommunikationsumgebung’ - werden scheinbar parallel voneinander diskutiert. Dabei sind sie zwei Seiten derselben Medaille. Offenheitsinitiativen berufen sich sowohl auf die rechtlichen, als auch auf die technischen Grundlagen für mehr Offenheit. Wenn die Umweltmetapher helfen soll, so etwas wie die kollektive Identität einer Open Movement zu bilden, muss sie umfassender formuliert werden als bisher.

    Fazit

    Auch wenn eine Open Movement nach formalen Kriterien noch nicht existieren mag, es werden bereits Bemühungen unternommen, eine solche durch die Konstruktion einer kollektiven Identität zu bilden. Allerdings scheinen die verschiedenen Ansätze hierfür noch relativ unabhängig voneinander entwickelt zu werden. Dies könnte dazu führen, dass sich die Offenheitsinitiativen nicht zu einer umfassenden Open Movement vereinen, sondern über eine Reihe von größeren ‘Lagern’ verteilen werden.
    Das Selbstbild der Beteiligten ist dabei letztlich wichtiger als formale Definitionskriterien. Wie Castells festhält:

    social movements must be understood in their own terms: namely, they are what they say they are. Their practices (and foremost their discursive practices) are their self-definition (Castells 2000: 69f., Herv. i. O.).

    Wenn sich Offenheitsinitiativen als Teil einer größeren Bewegung betrachten, ist es nicht unbedingt ratsam, ihnen diesen Status abzusprechen. Bereits beim Aufkommen der Bürgerrechtsbewegungen Ende der 1960er Jahre musste man das Verständnis von sozialen Bewegungen komplett überdenken, das sich bis dahin noch an den klassischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts orientierte (Arbeiterbewegung usw.). Um die neuen von den alten zu unterscheiden, verwendet die Forschung bis heute die Bezeichnung ’neue’ soziale Bewegungen. Vielleicht muss man bei einer Open Movement bereits von einer ’neueren’ sozialen Bewegung sprechen?

    Literatur

    Agel, Fabian (2011): Konstruktion und Aneignung kollektiver Identitäten: Eine Untersuchung am Beispiel von Attac Deutschland. In: Elsler, Monika (Hrsg.): Die Aneignung von Medienkultur. Rezipienten, politische Akteure und Medienakteure. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 123-136.
    Beck, Ulrich (1993): Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
    **Boyle, James **(2008): The Public Domain. Enclosing the Commons of the Mind. http://www.thepublicdomain.org/download/ [letzter Zugriff 29.10.12].
    Castells, Manuel (2000): The Information Age: Economy, Society and Culture Volume II. The Power of Identity. Cambridge: Blackwell.
    Celment, Andrew/Hurrel, Christie (2008): Information/Communications Rights as a New Environmentalism? Core Environmental Concepts for Linking Rights-Oriented Computerization Movements. In: Elliott, Margaret/Kraemer, Kenneth (Hrsg.): Computerization Movements And Technology Diffusion. From Mainframes to Ubiquitous Computing. New Jersey: American Society for Information Science and Technology, S. 337-358.
    COMMUNIA (2011): COMMUNIA Final Report. http://nexa.polito.it/nexacenterfiles/D1.11-COMMUNIA%20Final%20Report-nov2011.pdf [letzter Zugriff 30.10.12].
    Heald, David (2006): Varieties of Transparency. http://www.davidheald.com/publications/Healdvarieties.pdf [letzter Zugriff 29.10.12].
    Hepp, Andreas (2011): Medienkultur. Die Kultur mediatisierter Welten. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
    Herb, Ulrich (2012a): Open Initiatives: Offenheit in der digitalen Welt und Wissenschaft. http://universaar.uni-saarland.de/monographien/volltexte/2012/87/ [letzter Zugriff 29.10.12].
    Herb, Ulrich (2012b): Vorwort. In: Herb, Ulrich (Hrsg.): Open Initiatives: Offenheit in der digitalen Welt und Wissenschaft. http://universaar.uni-saarland.de/monographien/volltexte/2012/87/ [letzter Zugriff 29.10.12].
    Kapczynski, Amy (2010): Access to Knowledge: A conceptual Genealogy. In: Kapczynski, Amy/Krikorian, Gaëlle (Hrsg.): Access to Knowledge in the Age of Intellectual Property. Zone Books: New York, S. 17-56.
    Kapczynski, Amy/Krikorian, Gaëlle (2010): Access to Knowledge in the Age of Intellectual Property. Zone Books: New York. Frei verfügbar unter http://www.zonebooks.org/titles/KRIK_ACC.html [letzter Zugriff: 29.10.12].
    Krikorian, Gaëlle (2010): Access to Knowledge as a Field of Activism. In: Kapczynski, Amy/Krikorian, Gaëlle (Hrsg.): Access to Knowledge in the Age of Intellectual Property. Zone Books: New York, S. 57-95.
    Melucci, Alberto (1996): Challenging codes. Collective action in the information age. Cambridge: Cambridge University Press.
    Rucht, Dieter (1994): Modernisierung und neue soziale Bewegungen. Deutschland, Frankreich und USA im Vergleich. Frankfurt a. M.: Campus Verlag.
    Woodward, Kathryn (1997): Concepts of Identity and Difference. In: Woodward, Kathryn (Hrsg.): Identity and Difference. London: Sage, S. 7-50.